Am 31. März 2025 verwandelte sich die Aula der Wöhlerschule in einen Ort intensiver musikalischer Begegnung. Im Rahmen eines Workshops präsentierten Bariton Hans Christoph Begemann und der Pianist Thomas Seyboldt den Kunstliederzyklus „Winterreise“ von Franz Schubert, ein Werk, das zu den bekanntesten und emotionalsten der Romantik gehört.
Die Winterreise basiert auf 24 Gedichten von Wilhelm Müller und erzählt in Ich-Perspektive von einem Wanderer, der sich enttäuscht und verzweifelt in die winterliche Natur zurückzieht. Schuberts Vertonung dieser Gedichte verleiht den Texten eine tiefe emotionale Ebene und die Musik reflektiert den seelischen Zustand des lyrischen Ichs. Hier geht es von Hoffnung über Verzweiflung bis hin zur existentiellen Leere. Dieses Wechselspiel zwischen Text und Musik wurde im Workshop besonders deutlich herausgearbeitet.
Hans Christoph Begemann hatte eine ausdrucksstarke Stimme, die dunkel, warm und voller innerer Spannung war. Besonders auffällig war seine dynamische Gestaltung: laute Passagen wirkten eindringlich und dramatisch, während leise Stellen Intimität und Verletzlichkeit vermittelten. Durch seine klare Artikulation gelang es ihm den inneren Konflikt der Figur nachvollziehbar darzustellen. Man hatte das Gefühl, dass er nicht nur sang, sondern die Emotionen direkt aus seinem Innersten formte.
Thomas Seyboldt am Klavier war mehr als nur ein Begleiter, in seinen Händen wurde das Klavier zur klanglichen Projektionsfläche der inneren Welt des Protagonisten. Mal klang es wie kalter Wind, dann wieder wie hoffnungsvolles Vogelgezwitscher oder das Klopfen eines warmen Herzens. Durch das Zusammenspiel von Stimme und Klavier entstand ein emotional aufgeladenes Klangbild, das man sogar unter der Haut spürte.
Besonders interessant war die Präsentation verschiedener Interpretationsmöglichkeiten. So wurde beispielsweise dasselbe Lied einmal in schnellerem, einmal in langsamem Tempo vorgetragen. Dadurch wurde deutlich, wie stark die musikalische Wirkung durch Tempo, Dynamik und Artikulation beeinflusst werden kann. Diese Gegenüberstellungen gaben uns nicht nur einen Einblick in die Tiefe des Werks, sondern zeigten auch, wie bewusst künstlerische Entscheidungen getroffen werden.
Auch die musikalischen Strukturen und Motive wurden thematisiert. Wir erfuhren zum Beispiel, wie wiederkehrende rhythmische Elemente und harmonische Wendungen die psychische Verfassung des Wanderers widerspiegeln. Die „kalte“ Harmonik im Lied „Der Leiermann“ gab eindrucksvoll die emotionale Enge und Ausweglosigkeit wieder.
Der Workshop wurde durch ein gemeinsames Erlebnis abgerundet: Beim Kunstlied ,,Der Lindenbaum‘‘ durften wir alle mitmachen. In diesem Moment wurde aus der Beschäftigung mit der Musik ein echtes emotionales Erlebnis. Es war ein starker Moment der Gemeinschaft und Teilhabe.
In Gesprächen mit Mitschülern wurde deutlich, wie sehr der Workshop viele berührt hatte, auch die, die sich bisher kaum mit klassischer Musik beschäftigt hatten. Das Liedduo war sehr offen und sie beantworteten alle Fragen. Außerdem war es, als ob durch die Musik eine neue Welt aufgeschlossen wurde, ein Blick in eine andere Zeit, aber mit Themen, die noch heute relevant sind: Liebeskummer, Einsamkeit und Identität.
Was bleibt ist ein eindrucksvoller, nachhaltiger und musikalischer Vormittag. Die Winterreise ist anspruchsvoll, doch genau das macht sie so wirkungsvoll. Sie zeigt, wie tief Musik gehen kann, wenn sie mit solcher Intensität und künstlerischer Sorgfalt vermittelt wird, wie es Begemann und Seyboldt gelungen ist. Ein großes Dankeschön an die beiden Künstler und an unsere Musiklehrkräfte, die diese besondere Begegnung möglich gemacht haben.
Leonora Radan